Projekthintergrund
„Bringing Together Divided Memory“ ist der Titel eines EU-geförderten Projekts, das historische Perspektiven zum Thema „Nationalsozialismus und Vertreibung“ aus Österreich, der Tschechischen Republik und der Slowakei in einer gemeinsamen zentraleuropäischen Erzählung vereint. Das Projekt basiert auf biografischen Video-Interviews, führt die persönlichen Erzählungen und Erinnerungen in einer dreisprachigen Darstellung zusammen und möchte auf diese Weise national begrenzte Narrative dekonstruieren. Es fokussiert den gegenwärtig durch Oral History fassbaren Zeitraum: die späten 1930er Jahre mit den zunehmenden nationalen Spannungen und der „Sudetendeutschen Krise“, die Zerstörung des tschechoslowakischen Staates durch den deutschen Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg, die Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei 1945/46 bis zur Schließung des Eisernen Vorhanges durch die kommunistische Machtübernahme im Februar 1948. Die Nach- und Erinnerungsgeschichte dieser Vorgänge reicht bis in die Gegenwart.
Die Ermittlung der Interviewpartner erfolgte in erster Linie über Anfragen in sozialen Medien oder über berufliche und private E-Mail-Verteiler. Auf diese Weise konnten viele Menschen erreicht werden, die noch nie über die betreffende historische Erfahrung interviewt wurden. Die Recherche über Institutionen wie etwa Vertriebenenorganisationen hat den Nachteil, dass häufig „erprobte“ Interviewpartner vermittelt werden und dass diese in höherem Grad bestimmten kollektiven Narrativen folgen, die über Jahrzehnte in den Institutionen ausgebildet wurden.
Ein besonderes Kriterium in der Recherche waren entsprechend dem transnationalen Fokus des Projekts komplexe Biografien, die dem nationalen Entweder-Oder widersprechen: etwa die Biografien von Menschen aus deutsch-tschechisch oder deutsch-slowakisch(-ungarisch) gemischten Familien und von mehrsprachig aufgewachsenen Menschen, von deutschsprachigen Nazigegnern oder primär deutschsprachig sozialisierten Jüdinnen und Juden, die von den Nazis verfolgt und, wenn sie überlebten, nach 1945 häufig wieder wegen ihrer Deutschsprachigkeit diskriminiert wurden. Deutlich „national“ geprägte Erzählungen fanden ebenfalls ihren Platz im Projekt – als Selbstzeugnis einer einstigen Überzeugung oder in weitgehend ungebrochener Fortdauer der historisch eingenommenen Position bis in die Gegenwart.
In Bezug auf das Gesamtprojekt wurde eine möglichst große Vielfalt der historisch-biografischen Erfahrungsperspektiven angestrebt, um darin die Erkenntnismöglichkeiten und Handlungspotentiale deutlich zu machen, über die die Menschen im Geschichtsverlauf – auch unter totalitären oder kriegsbedingten Verhältnissen – sowie in ihrer biografisch-historischen Reflexion verfügten. Allgemeiner formuliert, zeichnet sich so – als das besondere Potential der Oral History – die Mannigfaltigkeit der Mikrogeschichten im Verhältnis zur politischen Makrogeschichte ab.
Der historische Hintergrund
Bei ihrer Entstehung im Jahr 1918 erbte die Tschechoslowakei die ethnische Vielfalt der Donaumonarchie. 1921 wurden 8,8 Millionen Tschechen und Slowaken gezählt, 3,2 Millionen Deutsche, 0,7 Millionen Magyaren, eine halbe Million Russen, Ukrainer und Karpatorussen, knapp 200.000 Juden, 100.000 Polen und noch weitere kleinere Gruppen.
Die Konzeption des Staates schwankte zwischen einem Vielvölkerstaat nach dem Vorbild der Schweiz und einem Nationalstaat, in dem nationale Minderheiten neben dem tschechoslowakischen „Staatsvolk“ lebten. Jedenfalls war die Tschechoslowakei eine funktionstüchtige parlamentarische Demokratie mit gleichen Bürgerrechten aller BewohnerInnen und weitreichenden Minderheitenrechten. Eine vollständige Gleichberechtigung ließ sie allerdings ebenso vermissen wie eine politische Gleichbehandlung aller Regionen durch die Prager Regierung.
Wie zahlreiche Staaten Zentraleuropas der Zwischenkriegszeit, litt auch die Tschechoslowakei unter Spannungen zwischen den Volks- und Sprachgruppen, wobei sich diese Spannungen in Grenzen hielten, solange sie im demokratischen Rahmen ausgetragen wurden. Die nationale Agitation rief, vor allem in den mehrsprachigen Städten, auch einen positiven Wettbewerb bei der Gründung von Kultur- und Bildungsinstitutionen hervor.
Die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre wirkte sich in den Industriezweigen der mehrheitlich deutschsprachigen Grenzgebiete des Landes stärker aus als im Binnenland. Die tschechoslowakische Zentralregierung strengte sich wenig an, dieses Gefälle auszugleichen, was die separatistische Sudetendeutsche Partei (SdP) unter Konrad Henlein stärkte und die „aktivistisch“ (auf Zusammenarbeit innerhalb des tschechoslowakischen Staates) ausgerichteten Parteien schwächte. Bei den Parlamentswahlen 1935 wurde die SdP mit 68% stärkste Kraft in den Grenzgebieten. Sie orientierte sich immer stärker an der NSDAP, wurde von Deutschland finanziell unterstützt und übte zunehmend Druck auf die deutschsprachigen BewohnerInnen der Grenzgebiete aus. Als sie 1937 bei den Kommunalwahlen in den Grenzgebieten 90% der Stimmen gewann, war sie zur „Fünften Kolonne Hitlers“ geworden: zu einem Instrument, das den tschechoslowakischen Staat zerbrechen sollte.
Beim „Münchner Abkommen“ im September 1938 stimmten die maßgeblichen europäischen Staaten Frankreich, England und Italien – ohne Beteiligung von tschechoslowakischen Vertretern – dem Anschluss der deutschsprachigen Grenzgebiete an das Deutsche Reich zu. Was dem europäischen Frieden dienen sollte, lieferte die Tschechoslowakei der NS-Expansionspolitik aus und führte ein halbes Jahr später zur völligen Zerstörung des Staates. Hitler annektierte die verbliebenen tschechischen Gebiete als „Protektorat Böhmen und Mähren“. Die Slowakei spaltete sich als selbständiger faschistischer Staat von Hitlers Gnaden ab.
Edvard Beneš errichtete in London eine tschechoslowakische Exilregierung, die die gesamte NS-Zeit hindurch an der zukünftigen Wiedererrichtung des Staates arbeitete. Nach den Erfahrungen von 1938/39 plante Beneš von Anbeginn eine Schwächung des deutschen Einflusses im zukünftigen Staat, wobei die numerische Reduktion der knapp 3,5 Millionen Deutschen in der Tschechoslowakei nach den ersten Plänen zu einem Gutteil durch Gebietsabtretungen zustande kommen sollte. Im Kriegsverlauf und mit zunehmender Erbitterung über die NS-Schreckensherrschaft wandelte sich die Rücknahme des Münchner Abkommens immer mehr in Richtung möglichst vollständiger Vertreibung ohne Gebietsabtretungen. Beneš fand dafür nicht ungeteilte, aber zunehmende Unterstützung vonseiten der Alliierten, am deutlichsten vonseiten der Sowjetunion. Dass sich der national-bürgerliche Politiker Beneš auf diesen Machtfaktor für die zukünftige Vertreibung stützte, trug zu seinem eigenen Sturz und zum kommunistischen Staatsstreich im Februar 1948 bei.
Die Vertreibung und Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung fand in zwei Etappen statt:
1. in den „wilden“, gleichwohl politisch organisierten Vertreibungen von etwa 800.000 „Deutschen“ unmittelbar nach Kriegsende, die Tausende Tote forderten;
2. in der von der Potsdamer Konferenz im August 1945 sanktionierten Aussiedlung von etwa 2,2 Millionen Menschen.
240.000 „Deutsche“ verblieben in der Tschechoslowakei, von denen ein großer Teil in mehreren Phasen emigrierte (bis 1948 und 1968).
In der Slowakei verlief dieser gesamte historische Abschnitt deutlich anders. Die „Karpatendeutschen“ bildeten hier eine numerisch weit schwächere Gruppe als die Deutschmährer und -böhmen. Es gab keine durchgehend deutsch besiedelten Grenzgebiete. Die meisten Deutschen lebten in der multiethnischen Stadt Bratislava/Pressburg und in den beiden Sprachinseln Zips und Hauerland, deren Bevölkerung ebenfalls sprachlich, ethnisch und konfessionell stark durchmischt war.
In dem 1939 gegründeten unabhängigen klerikal-faschistischen Staat war das Zusammenleben zwischen Deutschen und Slowaken vorerst weitgehend ungestört. Tschechen mussten teilweise das Land verlassen. Juden und Jüdinnen wurden radikal verfolgt, deportiert und in den deutschen Vernichtungslagern ermordet.
Erst im Slowakischen Nationalaufstand 1944 und vonseiten der in- und ausländischen Partisanenbewegung gab es massiven Widerstand gegen das faschistische Regime und dessen nationalsozialistisch orientierte Politik – und dabei auch Ausschreitungen gegen deutschsprachige Ortschaften. Der Nationalaufstand, dem sich neben Partisanen beachtliche Teile der slowakischen Armee angeschlossen hatten, sollte das Land im Osten der näher rückenden Front öffnen und in der Folge einen politischen Umschwung herbeiführen. Er misslang und wurde vom deutschen Militär, das seinerseits Verbrechen an der slowakischen Zivilbevölkerung verübte, blutig niedergeschlagen. Für die deutschsprachige Zivilbevölkerung, die insgesamt weit weniger deutsch-national geprägt war als die böhmische und mährische, verschlechterten sich die Lebensbedingungen. Nach dem Nationalaufstand und angesichts des Herannahens der sowjetischen Front begann die Evakuierung der deutschsprachigen Bevölkerung vor allem aus der Zips in der Ostslowakei und weniger systematisch aus dem Hauerland. Aus Bratislava/Pressburg flohen die Menschen nach Westen. Ein Teil der BewohnerInnen kehrte nach Kriegsende zurück und konnte sich wieder ansiedeln. Die Vertreibung der „Deutschen“ wurde im slowakischen Teil des wiedererrichteten Staates weniger systematisch verfolgt als in Tschechien, und es blieben kleine Teile der traditionellen deutschen Siedlungsgebiete erhalten. Magyaren und Roma wurden vielfach in das entvölkerte Sudetenland umgesiedelt.