Volkskundemuseum Wien
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In den Sammlungen des Volkskundemuseums befindet sich ein Konvolut von 173 Kartonblättern, an denen jeweils mehrere Stickmusterstreifen oder Perlbandarbeiten befestigt sind. Die Handarbeiten tragen die Inventarnummern ÖMV/38.398 bis ÖMV/38.942, es handelt sich also um 544 Objekte. Die Kartons wurden zusammen mit weiteren textilen Stücken 1921 angekauft und im Inventarbuch als "Sammlung rutenischer Frauenarbeiten von der Liquidationsstelle für die Flüchtlingslager" vermerkt.
Die Bedeutung dieses Bestandes wurde dem Museumsteam durch die Historikerin Julie Thorpe eröffnet, die im Sommer 2011 im Zuge von Recherchearbeiten zu Flüchtlingen im Ersten Weltkrieg Einsicht in das Konvolut nahm. Die Kartons stammten nämlich ursprünglich aus einer Ausstellung, die mitten im Ersten Weltkrieg, im Spätherbst 1915, in Wien zu sehen war. In dieser Schau zur "Kriegshilfe" versuchte das k. k. Innenministerium zu zeigen, wie gut die hunderttausende Flüchtlinge aus dem Osten und Süden der Monarchie in den eigens für sie errichteten Lagern in Niederösterreich, Kärnten und anderen Gebieten untergebracht wären.
Die Flüchtlinge aus dem Osten, das waren unter anderem die "Ruthenen". So wurden in der Habsburgermonarchie alle Bürger und Bürgerinnen bezeichnet, die eine ostslawische Sprache oder einen ostslawischen Dialekt verwendeten, und zum Großteil – aber nicht nur – in Galizien, der Bukowina und Nordungarn lebten. Heute sind sie, meist als "Russinen", in etlichen Staaten als Minderheit anerkannt, in anderen, so in der Ukraine, zählen sie zu den Ukrainern, obwohl es auch hier Bestrebungen gibt, einen Minderheitenstatus zu erlangen.
In der Ausstellung von 1915 ging es darum, anhand von Statistiken und Fotos zu belegen, dass die ruthenischen und die anderen Flüchtlinge gut versorgt wären, dass sie genug Nahrung und warme Kleidung erhielten, dass man sich aber auch sonst um sie kümmerte, ihnen Unterricht und eine Beschäftigung geben würde. In der Ausstellung wurden die Produkte gezeigt, die Flüchtlinge in den Lagern herstellten: Es handelte sich um hausindustrielle Erzeugnisse wie Strohschuhe, Puppen, Karren oder eben die vorliegenden Handarbeitsmuster. Die Ausstellung unterschied sich in diesem Punkt nicht von den großen und kleineren Präsentationen von Volkskunst und Hausindustrie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Das Pittoreske dieser Produkte sollte die Unterschiede der Völker der Monarchie einebnen, verstärkte sie in Wirklichkeit aber. Ganz abgesehen davon, dass die realen Lebensbedingungen in den Lagern grauenhaft waren und überhaupt nicht dem in der Ausstellung präsentierten Bild entsprachen. Die Lager waren hoffnungslos überbelegt, es gab zu wenig Nahrung und zu wenig warme Kleidung, auch zu wenig Strohsäcke, so dass die meisten Insassen auf der nackten Erde schlafen mussten. Seuchen grassierten und die Kindersterblichkeit war extrem hoch. Außerdem sollte die Internierung der so genannten Kulturmission dienen: Durch Disziplin und Unterrichtsmaßnahmen, z.B. Deutschunterricht, sollten die als unzivilisiert und schmutzig eingestuften Flüchtlinge aus dem Osten zu besseren StaatsbürgerInnen und patriotischen ÖsterreicherInnen bzw. Deutschen erzogen werden.
Die Beschäftigung mit den beeindruckenden, großteils sehr fein gearbeiteten Stickereien des Konvoluts zeigt wieder einmal, dass die so genannte Volkskultur bzw. die Volkskunst nie losgelöst von gesellschaftlichen Bedingungen betrachtet werden sollten. Sie sind nie einfach nur ästhetisch ansprechend oder schön, sondern immer hochpolitisch.
Die Auswahl an Stickmustern und Perlenhalsbändern, die hier in den Online Sammlungen gezeigt werden, umfasst 163 Objekte. Sie wurden – vermutlich für die Ausstellung von 1915 – im Falle der Perlenbänder mit rundköpfigen Metallheftklammern, im Falle der Stickereien unter Einsatz von Klebstoff auf weiße und graubraune Kartons (je 50 x 34 cm) montiert. Die Handarbeiten sind größtenteils gut erhalten, manche der Stickereien sind jedoch stark verschmutzt. Der zur Befestigung verwendete Klebstoff dringt häufig in Form von gelben Flecken bis zur Oberfläche der Stoffe vor. Manche der Arbeiten beginnen, sich von ihren Kartons zu lösen. Die Kartons selbst weisen Knicke und Flecken auf, manche besitzen in der Mitte des oberen Randes kleine Einstichlöcher, die möglicherweise von Reißnägeln zur Aufhängung verursacht wurden. Andere hingegen scheinen kaum berührt und sind gänzlich unversehrt. Auch der durch Lichteinfall bedingte Ausbleichungsgrad ist unterschiedlich ausgeprägt. Hiervon betroffen sind die Kartons selbst, sowie die Farben der verwendeten Garne.
Die Kartons mit Stickereimustern wurden mit den Namen von Bezirken beschriftet, die entweder die Zuordnung der Muster oder die Herkunft der Herstellerinnen indizieren. Die meisten dieser Bezirke lagen ehemals im Kronland Galizien, einzig der Bezirk Sastawna gehörte bis 1918 zum Kronland Bukowina. Die auf den Kartons der online präsentierten Muster vermerkten Bezirke, die heute in der Ukraine, und zwar in den Oblasten Lwiw, Iwano-Frankiwsk, Ternopil und Tscherniwzi liegen, lauten: Berezany, Bibrka, Bohorodczany bzw. Bohorodtschany, Butschatsch, Horodok, Horodenka, Jaworiw, Kalusch, Kaminka Str., Kolomea, Lwiw, Nadwirna, Peremyszl, Peremyszlany, Petschenischyn, Radechiw, Sastawna, Sboriw, Skole, Sniatyn, Sokal, Stryj, Towmatsch, Turka, Zydatschiw. Der Bezirk Lisko liegt im heutigen Polen in der Woiwodschaft Karpatenvorland, das Gebiet des Bezirks Peremyszl befindet sich sowohl in der Woiwodschaft Karpatenvorland in Polen als auch in der Oblast Lwiw in der Westukraine. Die hier verwendete Schreibweise der Bezirke entspricht den Kartonbeschriftungen und weicht in einzelnen Fällen von der heute korrekten Schreibweise ab.
Bei den verwendeten Materialien für die Stickereien handelt es sich um Baumwollgarne, die Trägerstoffe sind aus Leinen, Baumwolle, Wolle oder Zellulose und in Leinwandbindung gewebt. Die Farben Rot und Schwarz dominieren die Farbpalette der Stickereien, welche noch Gelb-, Grün-, Blau- und vor allem unterschiedliche Violetttöne aufweisen. Die am häufigsten verwendete Sticktechnik ist die Flachstichstickerei, die in unterschiedlichen, sich wiederholenden Mustern ausgeführt wurde. Die Flachstiche liegen dicht nebeneinander und bedecken den Stoffgrund fast vollständig, wobei durch die Verwendung verschiedenfarbiger Garne Musterabfolgen entstehen. Durch gezielte Aussparungen in geometrischen Formen erhalten die Stickereien ein zusätzliches Musterelement. In Kombination mit der Flachstickerei werden andere Sticharten verwendet: Einzelne Reihen aus geschlossenem Kreuznahtstich, Hexenstich oder Zopfstich gliedern die Arbeiten in optisch abgegrenzte Bereiche. An den Rändern sind Zackenbordüren oder Reihen aus Kreuzstichen mit Abstand nach jedem Stich zu finden. Kreise werden durch gerade Stiche, die strahlenförmig um einen Punkt gestochen sind, erzielt. Einzelne Flächen sind fallweise mit Holbeinstichen umrandet. Die Technik der Kreuzstichstickerei ist in drei Ausführungen vertreten: erstens in Zusammenhang mit der bereits beschriebenen Flachstichstickerei, zweitens als mitunter stark stilisierte Blumenranken, die teilweise mit nur zwei Farben ausgeführt sind, wobei sich die Farbpalette nicht auf die der natürlichen Vorbilder beschränkt, und drittens als geometrische Muster aus diagonal verlaufenden Linien, die den Eindruck eines rautenförmigen Gitters entstehen lassen, wobei die Zwischenräume teils mit geometrischen Formen geschmückt sind.
Kathrin Pallestrang, Nina Harm
Webpräsentation: Elisabeth Egger
Dezember 2016
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Elisabeth Egger
elisabeth.egger@volkskundemuseum.at
Wegen der anstehenden Sanierung des Museums können nur mehr Anfragen nach bereits bestehenden Digitalisaten bedient werden.
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