Interview 3/2021

„Mit ausreichend Humor den Huf drauflegen“

Interview mit Lorenz Seidler, aka eSeL, über Tiere, Kunst und Digitalisierung.

Du bist der eSeL von Wien – was gefällt dir an dem langohrigen Tier?
Meine Initialen S + L ergeben ausgesprochen das Tier Esel. Gleichzeitig ist es ein Erkenntnisprinzip. Ein Esel kann auch „dumme“ Fragen stellen, zugleich stehen die langen Ohren für erhöhte Aufmerksamkeit. Dem Esel wird Sturheit nachgesagt, was ich für mich genauso in Anspruch nehmen würde. Mit grauem Fell kann ich die Ambivalenz zwischen schwarz und weiß gut aushalten. Den eSeL kann ich vorschicken, er sorgt als performativer Selbstentwurf stets für humorvolle Begegnungen.
 
Du beobachtest und kommentierst seit über zwanzig Jahren das zeitgenössische Kunstgeschehen der Stadt. Wie waren die Anfänge?
In der Urform des Newsletters Ende der 90er war der eSeL tatsächlich das Autoren-Ich: „Was hat der eSeL gelernt?“ Das ist dann in Radio eSeL. Die Sendung mit dem Schaf übergegangen: Meine Co-Moderatorin Sarah Pichler, die nicht wirklich an Kunst interessiert war, musste sich als „Schaf“ authentisch vom eSeL überzeugen lassen, dass gewisse Dinge doch spannend sind, obwohl sie Kunst heißen.
 
Und heute?
Die Radiosendung war irrsinnig schön. Aber ich bin glücklich, dass ich jetzt eine Mikro-Institution habe, die inzwischen ein Archiv ist, einerseits von dem absehbaren Ende des analogen Flyers – jede einzelne Kunsteinladung habe ich aufgehoben, archiviert und 2016 für die Sammlung eSeL im Essl-Museum aufbereitet – und andererseits ein digitaler Datenschatz, der durch rückwirkende Beschlagwortung als Archiv nutzbar ist. Weiterhin treibt mich die Frage an, welche Kriterien oder Gewohnheiten dazu führen, dass wir gewissen Produktions-weisen, Artefakten oder Prozessen über das Wort „Kunst“ eine Aufmerksamkeit zuschreiben. Eine Aufmerksamkeit, die eigenwillige Nischen von Freiheit ermöglicht, die jedoch durch eigene historische Traditionen, Diskurse und Sozialisierungs-prozesse bedingt ist.
 
An was denkst du dabei?
Wir schleppen die Hierarchien des späten 19. Jahrhunderts noch immer mit uns herum. Eine kleine wohlhabende Sammler*innenschicht kann über den Kunstmarkt mitentscheiden, und darüber, welche Praktiken uns auch in Museen als relevant verkauft werden. Zum Glück gibt es den institutionellen und akademischen Bereich, zivilgesellschaftliche Initiativen und Vereine und sonstige Kollaborationsformen, die auch auf internationaler Ebene durchaus mitzureden haben und gesellschaftliche Aufmerksamkeit einfordern. Kunst ist noch immer eine Nischendisziplin, die sich gegen die anderen Verlockungen interessanter Freizeitgestaltungen – wenn man es vom Aspekt Entertainment her betrachtet – durchsetzen muss. Es ist eine Form „intelligenter Unterhaltung“, und zwar im buchstäblichen Sinne. Kunst gibt die Gelegenheit, Leute zu treffen, mit denen man sich anregend unterhalten kann, zugleich ist das durchaus unterhaltsam.
 
An wen richtet sich der eSeL?
Einerseits an die Kunstszene, andererseits an Interessent*innen und ein Publikum, das noch nicht weiß, dass es eins ist. Ich möchte mich nicht damit zufriedengeben, irgendwo dazuzugehören. Ich schaue mir lieber selbstkritisch zu und versuche dann, diesen Blickwinkel zu teilen. Ich bin mir wohl gewahr, dass ich in der privilegierten Position bin, sehr viele Ausstellungen anschauen zu dürfen, und mir das auch  vom Elternhaus genauso wie Bildungsmöglichkeiten mitgegeben wurde. Wenn mir etwas taugt, habe ich das Bedürfnis, es weiterzuempfehlen.
 
Seit 2011 gibt es die eSeL REZEPTION im Museumsquartier. Was ist die Intention eines Standorts in der analogen Welt?
Mit der eSeL REZEPTION betreiben wir unser öffentliches Büro zugleich als Treff-punkt zum Andocken und Plaudern. Da ist die Touristin, die neben bestimmten Aus-stellungen über uns mit lebendiger Szene in Berührung kommt. Oder die Flaneure aller Disziplinen, die sich in den vielfältigen Angeboten des Museumsquartiers zu uns verirren und wiederum uns tolle Einblicke ermöglichen.
 
Ein neues Format ist der #eSeLSCHWARM: Ihr ladet Social-Media-Influencer*innen ein, sich auf ihre Art mit zeitgenössischer Kunst auseinander zu setzen. Was interessiert dich oder euch an dieser Personen-gruppe?
Mit #eSeLSCHWARM dezentralisieren wir den eSeL. Das bringt neue Blickwinkel dank veränderter Mediennutzung und -mitgestaltung mit sich, die ich zwar gerne beobachte, aber auch nicht mehr selbst überall mitmachen muss und will. Über die dritte Zwiebelschale seiner eigenen Reichweite hinauszukommen ist tausendfach anstrengender, als ich gedacht habe. Man muss Formen finden, langfristig in produktiven Austausch zu kommen. Aktuell küren wir monatlich ein bis zwei neue Botschafter*innen: Personen, die bereits in einer eigenen Öffentlichkeit eigene Formen des „Sprechens“ entwickelt haben, Expert*innen aller Disziplinen oder auch Artfremde im wahrsten Sinne des Wortes – und vor allem auch neue Communities in Wien, die Auseinandersetzung mit Kunst mitunter noch nie ausprobiert haben. Wir gewöhnen umgekehrt unsere User*innen daran, dass die Auseinandersetzung mit Kunst immer aus individuellen Perspektiven heraus stattfindet. Es geht dabei null um „quantitative“ Reichweite. Unsere Botschafter*innen nehmen hoffentlich ihre Freund*innen, die noch nie in ihrem Leben im Museum waren, in Ausstellungen mit, und die konfrontieren Kunst wiederum mit ihren Fragen.
 
Das Forschungsprojekt Recht auf Museum? fragt in Archiv- und Feldforschungen nach den Öffentlichkeits-konzeptionen von Museen. Was hat es mit eurer Kooperation auf sich?
Der #eSeLSCHWARM inkludiert auch, ungewöhnliche Expert*innenmeinungen fruchtbar zu machen. Wir kommen von zwei Seiten: Das Projekt Recht auf Museum? betreibt ernsthafte qualitative und quantitative Forschung, wir machen es halt artistically dirty. Mit einer Postkarte, mit der man seine Freizeitprioritäten – justament nach Corona – buchstäblich neu sortieren kann, bringen wir uns ein, oder bieten anhand der Liebesbriefe oder Einträge ins Beschwerdebuch zum jeweiligen Museum kleine Sneak Peeks, die wir direkt aus den Stimmen der Besucher*innen gemeinsam zu entzückend ehrlichen Portraits der erforschten Häuser remixen. Mir gefällt sehr, dass Punkte, die aus einem bestimmten Blickwinkel als Beschwerde gemeint sind, aus einem anderen eigentlich ein großes Kompliment sein können. Bei euch zum Beispiel kam die „Beschwerde“, dass ein Zusammenhang zwischen Volkskunde und der Realität unserer Migrationsgesellschaft hergestellt wird. Ich finde das eigentlich ein Kompliment. Der Fragebogen legt frei, wie heterogen Museen wahrgenommen werden, wir freuen uns, wenn wir dem Öffentlichkeit bieten können.
 
Das Volkskundemuseum Wien ist seit 2008 Teil des Partnernetzwerks vom eSeL. Was verbindest du mit dem Museum?
Das Volkskundemuseum hat zusätzlich zu seinen Programmangeboten und der selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Sammlung ein sehr charmantes Zeichen gesetzt: die Öffnung der Passage bietet eine geniale Abkürzung von der Laudongasse in den Schönbornpark, dafür muss man in das Museum hineinschnuppern und stolpert in euren Museumsshop, der zugleich eine raffinierte Ausstellung ist. Euer Museum nimmt zusätzlich eine neue Vermittlungsrolle ein: als Kontaktknoten zu den Wissensräumen und Communities großer, teils mehrjähriger Forschungsprojekte. Die Initiative Recht auf Museum? habe ich zum Beispiel erst über euer Programm entdeckt.
 
Spätestens seit Corona ist auch das letzte Hinterzimmer in der digitalen Welt angekommen und alle Welt postet, bloggt, podcastet. Wie nimmst du diese vermehrten Aktivitäten im Netz wahr?
Unser Online-Kalender ist durch Corona explodiert. Ab März 2020 war zu beobachten, dass viele Akteur*innen und Kultureinrichtungen unabhängig von ihrer institutionellen Größe begonnen haben, den Ausnahmezustand innovativ zu bewältigen. Dabei werden unterschiedliche Anliegen, Diskussionen über Qualitätsparameter, aber auch die Vielschichtigkeit von Gesellschaft deutlicher.
 
Es gibt One Way-Channel, die fast deckungsgleiche Übertragung analoger Formate in den virtuellen Raum, aber auch experimentelle Versuche und neue Wege der Interaktion mit dem Publikum.
 
Wie erlebst du die Online-Formate?
Es war bisher nicht selbstverständlich, dass analoge Veranstaltungen digital mitgesendet werden. Dort werden plötzlich ungewohnte, kritische Fragen gestellt und die Anonymität des Internet wird im direkten Austausch sogar produktiv. Gerade im Performance-Bereich gibt es spannende Formate, die die Ambivalenz von Privatheit in öffentlichen Zoom-Calls erproben. Ich habe für die Vienna Art Week ein Online-Marathon-format gemacht, da haben wir Ateliers online „besucht“. Wir haben gute intime Gespräche geführt, die über die Dauer von 12 Stunden zigtausend Leute mitverfolgt haben.
 
Welche Bedeutung hat dennoch der analoge Raum?
Künstler*innen oder Kurator*innen arbeiten immer im Bewusstsein für den Raum, in dem eine Setzung passiert, und das Publikum stellt durch das Bewegen in diesem Raum persönliche Bezüge zu Werken und Inhalten her, die sich für sie und durch sie im Zuge ihres Rundgangs verändern. Neben den Räumen haben auch die Objekte enorme physische Präsenz. Diese Aspekte können die Digitalisierung nie ersetzen. Die Corona-Pandemie hat den Wert von sinnlichen Erfahrungsräumen wieder deutlich gemacht.
 
Wohin geht die Reise der Digitalisierung im Kunst- und Kulturbereich? Worüber reden wir in 5 oder 10 Jahren?
Wir haben oft überhaupt keinen Bezug zu unseren Daten. Dass Datenkolonialismus durch multinationale Konzerne passiert und kaum jemand etwas dagegen unternimmt, muss man vorwegschicken, bevor wir uns freuen, dass die Digitalisierung Sichtbarkeit für unterrepräsentierte Gruppen ermöglicht. Die Ausverhandlungsprozesse über relevante künstlerische Praktiken und die Diskussion über die jeweiligen Qualitätsparameter haben sich stark ins Netz verlagert, aber auch viele Diskussionen allzu fragmentiert. Durch die Institutionen und den internationalen Kunstmarkt findet natürlich weiterhin eine Kanonisierung statt. Als eSeL habe ich durchaus gerade in diesem digitalen Neben- und Miteinander ein Interesse, mit ausreichend Humor den Huf draufzulegen, was da passiert. Man muss die Dinge in ihrer Ambivalenz nutzen, und in dem Bewusstsein über das, was man unter welchen Bedingungen tut, sich der Freiräume bedienen, die man sich schaffen kann.
 
Was erwartet uns?
Eine der Herausforderungen des 21. Jahr-hunderts wird das Datensortieren sein:  Zu wissen, wo sie sind, ob sie sicher sind, wer wie darauf zugreifen kann und welchen Metaanalysen sie unterliegen. Es wird um das Verhältnis Menschdenken gegenüber Maschinendenken gehen. Bei der Verteilung von Mitspracherecht und in Folge Chancengleichheit und Verteilung ökonomischer Ressourcen geht es ans Eingemachte. Ich hoffe, dass der Kulturbetrieb diese Fragen in ständigem Update seines eigenen Selbstverständnisses immer wieder aufwirft und ihnen kritische Öffentlichkeiten verschafft.
 
Eine persönliche Frage zum Schluss: wie vereinbar mit Familie und Kindern ist ein Leben als Kunst-Kommunikations-Schaltstelle?
In den letzten anderthalb Jahren konnte ich weniger Projekte umsetzen, hatte aber mehr Zeit mit meiner Familie. Dafür bin ich dem Lockdown schon dankbar. Jetzt, wo das normale Leben schneller zurückkehrt als ich es erwartet hätte, wird es spannend. Der Trick ist derzeit, weniger zu schlafen. Dinge abzugeben und loszulassen ist auch ein Gedanke hinter dem #eSeLSCHWARM. Ein eSeL findet sich immer etwas zum Lernen.
 
Das Gespräch führte Gesine Stern.
 
eSeL,* 1974 als Lorenz Seidler, lebt und arbeitet in Wien und im Internet. Studium der Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Wien. Er arbeitet als Künstler, Kurator, Fotograf, Performer und Kommunikator. 1999 gründete er die Kunst-Plattform eSeL.at. Seit 2011 betreibt er die eSeL REZEPTION im MuseumsQuartier Wien. Kurator von Ausstellungen  (ARTmART, 2007–2011, Künstlerhaus Wien /  Skandal  Normal, 2016, Offenes Kulturhaus OK Linz) sowie vertreten in Gruppen- und Soloausstellungen (Die Sammlung eSeL, 2016, im Essl Museum Klosterneuburg / Kunst Bekenntnis Box, 2019, Galerie 5020 Salzburg), Performative Kommunikation (Big Brother Awards Gala im Rabenhof Theater, seit 2015) sowie Projekte im öffentlichen Raum (eSeL GAZEBO. Galerie für öffentliche Räume, 2010–2012, KOER Wien / Museum zu Gast, 2017–2019, Landesgalerie Niederösterreich & Kunst im öffentlichen Raum Niederösterreich).
www.esel.at
@eselat

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