Volkskundemuseum Wien
Otto Wagner Areal, Pavillon 1
Baumgartner Höhe 1, 1140 Wien
Postanschrift:
Laudongasse 15-19, 1080 Wien
T: +43 1 406 89 05
F: +43 1 406 89 05.88
E: office@volkskundemuseum.at
Zum Newsletter:
HIER anmelden &
informiert bleiben!
Mostothek
ab 1.5. @ OWA
2009 bist du von Deutschland nach Österreich gekommen und leitest seither das Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Es war gewissermaßen ein Zurückkehren, denn du hast einige Jahre deiner Jugend in Wien verbracht, nachdem dein Vater einem Ruf als Professor der Uni Wien gefolgt war. Gab es damals schon das Volkskundemuseum auf deinem persönlichen Plan der Stadt?
Natürlich kannte ich das Museum als historischen Bau, der Achte Bezirk war Teil meines Aktionsradius. Ein direkter Bezug zum Museum ist allerdings erst später im Laufe meines Studiums entstanden. Museum und Fach waren und sind in Wien wie anderswo auch eng verbunden. Die 1990er Jahre mit der neu gestalteten Dauerausstellung waren eine Aufbruchszeit, während der ich näher in Kontakt kam. Das Museum war durch das Engagement von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beider Institutionen Teil universitärer Überlegungen und für die Europäische Ethnologie ein wichtiger Kooperationspartner in der Stadt.
Wie hast du in der frühen Zeit das Museum wahrgenommen?
Ich kam aus Kiel, dessen Architektur und Stadtbild in den 1960er und '70er Jahren geprägt wurde, nach Wien. Mit seinen historischen Gebäudeensembles wirkte die Stadt geradezu sakral und oft einschüchternd. Auch das Volkskundemuseum habe ich vor allem als ein barockes Palais wahrgenommen. Es war kein Ort, der mich als Jugendliche besonders angezogen hatte oder etwas Inspirierendes bot.
Heute beobachtest du die Stadt ausalltagskulturwissenschaftlicher Perspektive. Weshalb ist Wien ein interessanter Forschungsgegenstand?
Ich beobachte das alltagskulturelle Leben dort, wo ich wohne. Und da bietet Wien sehr viel. Da ich Wien schon als Kind kannte, nehme ich auch die Veränderungen der Stadt stark wahr. Ich verfolge sie aus einer historischen Perspektive, die für unser Fach zentral ist: Wann modernisierte sich die Stadt, wie entwickelten sich Szenen, wann kam eine Jugendkultur auf, wie entstehen Proteste?
Was sind deine spezifischen Forschungsinteressen?
Meine Forschungsinteressen entwickeln sich entlang der Orte, an denen ich gelebt habe: Hamburg, Göttingen, Wien. Oft sind es biographische Zusammenhänge und Erfahrungen, die mich zu neuen Themen und Schwerpunkten bringen. Mein Interesse an Rassismus als Alltagsdistinktionsmuster entstand zum Beispiel durch die Kombination meiner Studienfächer, die ihre eigenen fachlichen Perspektiven damals intensiv kritisch hinterfragten und im Zuge der Postcolonial Studies zunehmend Machtverhältnisse reflektierten. Mit Anfang zwanzig habe ich eine Forschungsreise nach Namibia unternommen. Die Erfahrungen dort haben meine Sichtweisen auf unser Fach und meine Methodenschwerpunkte stark geprägt.
Deine Seminare nehmen häufig ihren Ausgangspunkt in eigenen Beobachtungen. 2013/14 war ich Studentin in deinem Studienseminar zur Kulturpraxis der Sommerfrische. Ich erinnere mich, dass du dieses Thema aus der Wahrnehmung heraus vorgeschlagen hattest, dass Wien weitgehend leer ist im Sommer.
Ja genau. Als Strukturierungsmoment des Wiener Jahreslaufs war mir die Sommerfrische als Kind aufgefallen, weil alle meine Freunde über Wochen weg waren. Wir sehen hier eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit, die einerseits sehr milieugebunden ist. Andererseits hat sich die bürgerliche Sommerfrische längst pluralisiert und ist quasi Teil eines Habitus geworden. Mit dem Thema Protest verhält es sich ähnlich. Als ich es zum ersten Mal in der Lehre eingebunden habe, wurde Österreich türkis-blau regiert. Gegen die Regierungspolitik richteten sich die Donnerstagsdemonstrationen und andere Protestformen. Hinzu kamen Fridays for Future und Black Lives Matter. Es gab große Veränderungen innerhalb der Protestkultur, etwa im Hinblick auf die Bedeutung digitaler Vernetzungsmöglichkeiten oder Geschlechter- und Altersstrukturen – also die medial aufmerksam verfolgte Präsenz Jugendlicher bzw. junger Frauen in Protesten. Solche Phänomene haben eine hohe Brisanz und sind unmittelbar im öffentlichen Raum sichtbar.
Was sagt das über die Zeit aus, in der wir leben?
Ich glaube, wir befinden uns an einer Bruchstelle. Das zeigt sich in veränderten Lebensweisen und Konsumhaltungen, zum Beispiel durch wachsende Achtsamkeit gegenüber der Umwelt. Zugleich muss man diese Entwicklungen kritisch betrachten denn in den Veränderungsprozessen gibt es Widersprüche und Fraktionierungen. Viele partizipative kommunitäre Projekte sind in ökonomische Logiken eingebettet, wie es beispielsweise bei Car Sharing geschehen ist. Ich halte es für wichtig, solche Phänomene wissenschaftlich zu begleiten und zu verstehen.
Die Europäische Ethnologie ist ein Vielnamenfach und wird zum Teil sehr unterschiedlich verstanden und umgesetzt. Was zeichnet deinen Forschungsansatz aus?
Meine Forschungsthemen ergeben sich aus Alltagsbeobachtungen. Es geht mir darum, das eigene Leben und gesellschaftliches Leben zu befragen und zu verstehen. Mein Zugang ist sehr stark ethnografisch ausgerichtet, was ich zunächst epistemologisch-methodisch meine: aus einer teilnehmend-beobachtenden Perspektive heraus zu arbeiten. Es geht darum, konkrete Situationen, konkrete Meinungen, Haltungen, Selbstverständnisse anzusehen, sie genau zu kontextualisieren und suchend weiter zu fragen. Ich verstehe Ethnografie als multiperspektivische Annäherung und Ethnologie als akteurszentrierte Alltagskulturforschung in Geschichte und Gegenwart. Und für diese möchte ich begeistern.
Was bedeutet Alltag dabei?
Alltag ist im m er pluralisiert zu denken, es gibt verschiedene Formen und Modelle gleichzeitig. Damit sind nicht stetig gleiche, lähmende Routinen eines täglich gleichen Ablaufs gemeint, sondern selbstverständliche Arten und Weisen, sein Leben zu arrangieren. Das betrifft Fragen von Grundversorgung und Wohnen, Arbeit, Ökonomie, Gesundheit, Ernährung. Corona hat gezeigt, dass es Kennzeichen einer großen Krise oder Irritation ist, dass wir lernen, mit sich ändernden Rahmenbedingungen umzugehen. Wir sind inzwischen in einem anderen Alltag angekommen und auch dieser Alltag wird sich wieder verändern. Die Alltagskulturforschung zu existenziellen Krisen wie Flucht oder Krieg hat immer wieder gezeigt, welche Kompetenzen Menschen haben, sich zu arrangieren und lebenserhaltende Bewältigungsformen zu finden. Dazu gehört eine gewisse Routine und Struktur, was letztlich Alltag ist.
Wir haben dieser Tage ein großes gemeinsames Projekt erfolgreich abgeschlossen: die Online Ausstellung „Wir protestieren!". Sie ist das Ergebnis eines zweisemestrigen Studienprojekts und war ursprünglich als Ausstellung im Museumvorgesehen. Ende Jänner wäre die Eröffnung gewesen. Als sich abzeichnete, dass es pandemiebedingt unsicher werden würde, die Ausstellung im geplanten Zeitraum auch tatsächlich für Besucher*innen im Museum zu zeigen, habt ihr sehr flexibel reagiert. Statt die Ausstellungsräume zu bespielen, habt ihr aus eurem gesammelten Forschungsmaterial eine Website kuratiert. Was für Erfahrungen nimmst du aus diesem Prozess mit?
Sich wiederholt von bestimmten Wegen, Arbeitsweisen und Zielen verabschieden zu müssen, war eine große Herausforderung und ein Lernprozess. Die Logik und das Zeitmanagement des Museums sind ganz andere als die der Universität. Hinzukamen die eigenen Arbeitsprozesse von Grafik und Websiteprogrammierung. Ein Projektseminar lebt von Kollegialität und Teamarbeit, vom Austausch. Es wird viel gemeinschaftlich und demokratisch entschieden. Das kollidiert mitunter einfach mit Fakten, mit nicht vereinbaren Realitäten. Es braucht viel Wissen über die unterschiedlichen Arbeitsabläufe, um solche interdisziplinären Formen der Zusammenarbeit reibungslos und effektiv zu gestalten. Man muss wissen: wie arbeitet ihr, wie arbeiten wir – und dann die Schnittmenge finden. Das haben wir erst im Prozess verstanden und dabei sehr viel gelernt.
Praxisseminare und längere Studienprojekte sind fester Bestandteil im Lehrplan des Instituts. Was ist der Mehrwert solcher Formate?
Man arbeitet über einen längeren Zeitraum, über mindestens ein Jahr zusammen. So gibt es viele unterschiedliche Prozesse der Teambildung und zahlreiche Arbeitsschritte. Man lernt voneinander und untereinander. Die Arbeit an einem gemeinsamen Forschungsthema mündet in ein Ergebnis, das aufbereitet und in die Öffentlichkeit getragen wird. Man muss sich in einem solchen Gemeinschaftsprojekt koordinieren, sich in eine Gesamtlogik einfügen und kann nicht nur an sich selbst und sein eigenes Thema denken. Das beinhaltet zudem multiple Aufgaben: zur Forschung kommen Lektorat, Drittmittelakquise und Öffentlichkeitsarbeit hinzu. Für mich ist das Studienprojekt eine besondere Chance als Lehrformat des forschenden Lernens.
Neben dem Protest-Projekt ist aktuell auch die Lehrveranstaltung „Kulturwissenschaftliche Werkstatt" am Haus verankert. Was ist das Besondere an der Zusammenarbeit mit dem Museum?
Ich sehe viel Potenzial in der Zusammenarbeit mit dem Museum, weil ihr sehr viel Raum für Entwicklung und Kreativität gebt; Ausprobieren und Tun als Erkenntnisprozess und -gewinn. Es gibt zahlreiche Verknüpfungsmöglichkeiten, die wir zunehmend institutionalisieren und erweitern. Das Vorhaben „Campus Alltagskultur" war ja eine solche Vision. Wir können die unterschiedlichen Universitäts- und Museumslogiken immer besser verbinden und zunehmend Synergieeffekte nutzen. Die Studierenden wollen und sollen das Museum als Raum und Modus kennenlernen, Kulturwissenschaft zu denken und zu leben, zu studieren und auch zu intervenieren. Nicht zuletzt als eine mögliche Berufsperspektive.
Zum Schluss möchte ich noch auf ein persönliches Projekt von dir zu sprechen kommen. Du hast ein Haus im Weinviertel mit einem „Schaufenster" mitten im Dorf. Was genau passiert dort? Was sind Themen, die dich aktuell beschäftigen?
In meiner Forschung geht es aktuell um Relationen zwischen Stadt und Land, Wien und den Bundesländern. In Göttingen hatte ich mit der Mittelstadt-Forschung begonnen und das Projekt am Beispiel von Wels und Hildesheim von Wien aus fortgeführt. In der Logik des Metrozentrismus wird Mittelstadt als Defizit wahrgenommen und Stadt lediglich als Großstadt gedacht. Anliegen des Projekts war, darauf einen kritischen Blick zu werfen. Das Mittelstadt-Projekt hat mir vor Augen geführt, wie wichtig eine Betrachtung der spezifischen Stadt-Land-Relationen und ihrer Veränderungen ist und wie hilfreich der Vergleich dabei. Über das Sommerfrische-Projekt habe ich dazu noch einmal neue Aspekte entdeckt.
Während des ersten Lockdowns letztes Jahr waren viele Menschen in Wien in einer unwahrscheinlichen Belastungssituation, eine Verunsicherung griff um sich. Ich habe damals ein Haus im Weinviertel gekauft mit einem ehemaligen Geschäftslokal, dessen Schaufenster erhalten geblieben ist. In dem Ort leben Menschen, die dort aufgewachsen sind, manche pendeln nach Wien und es gibt einen Zuzug von Zweitwohnsitzlern. Ich kenne und beobachte die Gegend seit vielen Jahren.
Das Schaufenster möchte ich als Kommunikationsort nutzen. Es hat eine lokale Bedeutungsgeschichte und weckt viele Erinnerungen. Nun strebe ich eine Nachnutzung an, teils in Kooperation mit den erstaunlich vielen dort ansässigen Künstler*innen, aber auch im Sinne kultur- oder regionalhistorischer Vignetten. Kunst ist ein großes Interessensfeld von mir, auch als Gegenüber zur Wissenschaft.
Mit einem Kunstwerk von Johannes Heuer ist nun ein erstes Objekt ausgestellt. Es trägt den Titel Stellenbosch 2020 und spielt auf das Coronajahr an. Die Installation hat Irritationen und Austausch hervorgerufen. Als nächstes möchte ich bald einmal historische Fotos des Straßenbildes aufhängen, um ins Gespräch zu kommen über Änderungen des Dorfes bzw. der Region, die uns alle verbindet. So entwickelt sich das Schaufenster weiter – gedacht aus dem Konnex Stadt/Land. Aktuell bricht mancherorts im ländlichen Raum sozial etwas auf, und ich möchte verschiedenen Logiken der Ortsbindung und Lebensweise Raum geben. Für mich ist das auch eine neue Art, Wissenschaft zu denken und zu praktizieren.
Das Interview führte Gesine Stern
Brigitta Schmidt-Lauber, geb. 1965 in Kiel, studierte Volkskunde, Ethnologie und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Hamburg und Köln. Nach der Promotion 1997 und Habilitation 2003 in Hamburg wurde sie 2006 Professorin am Institut für Kulturanthropologie/ Europäische Ethnologie der Universität Göttingen. Seit 2009 leitet sie das Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Sie war viele Jahre Herausgeberin der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde und ist Vizepräsidentin des Vereins für Volkskunde. Als Ergebnis eines Studienseminars realisierte sie zuletzt die Online Ausstellung „Wir protestieren!" in Kooperation mit dem Volkskundemuseum Wien
Zur Interviewausgabe
Zurück zu allen Interviews
Natürlich kannte ich das Museum als historischen Bau, der Achte Bezirk war Teil meines Aktionsradius. Ein direkter Bezug zum Museum ist allerdings erst später im Laufe meines Studiums entstanden. Museum und Fach waren und sind in Wien wie anderswo auch eng verbunden. Die 1990er Jahre mit der neu gestalteten Dauerausstellung waren eine Aufbruchszeit, während der ich näher in Kontakt kam. Das Museum war durch das Engagement von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beider Institutionen Teil universitärer Überlegungen und für die Europäische Ethnologie ein wichtiger Kooperationspartner in der Stadt.
Wie hast du in der frühen Zeit das Museum wahrgenommen?
Ich kam aus Kiel, dessen Architektur und Stadtbild in den 1960er und '70er Jahren geprägt wurde, nach Wien. Mit seinen historischen Gebäudeensembles wirkte die Stadt geradezu sakral und oft einschüchternd. Auch das Volkskundemuseum habe ich vor allem als ein barockes Palais wahrgenommen. Es war kein Ort, der mich als Jugendliche besonders angezogen hatte oder etwas Inspirierendes bot.
Heute beobachtest du die Stadt ausalltagskulturwissenschaftlicher Perspektive. Weshalb ist Wien ein interessanter Forschungsgegenstand?
Ich beobachte das alltagskulturelle Leben dort, wo ich wohne. Und da bietet Wien sehr viel. Da ich Wien schon als Kind kannte, nehme ich auch die Veränderungen der Stadt stark wahr. Ich verfolge sie aus einer historischen Perspektive, die für unser Fach zentral ist: Wann modernisierte sich die Stadt, wie entwickelten sich Szenen, wann kam eine Jugendkultur auf, wie entstehen Proteste?
Was sind deine spezifischen Forschungsinteressen?
Meine Forschungsinteressen entwickeln sich entlang der Orte, an denen ich gelebt habe: Hamburg, Göttingen, Wien. Oft sind es biographische Zusammenhänge und Erfahrungen, die mich zu neuen Themen und Schwerpunkten bringen. Mein Interesse an Rassismus als Alltagsdistinktionsmuster entstand zum Beispiel durch die Kombination meiner Studienfächer, die ihre eigenen fachlichen Perspektiven damals intensiv kritisch hinterfragten und im Zuge der Postcolonial Studies zunehmend Machtverhältnisse reflektierten. Mit Anfang zwanzig habe ich eine Forschungsreise nach Namibia unternommen. Die Erfahrungen dort haben meine Sichtweisen auf unser Fach und meine Methodenschwerpunkte stark geprägt.
Deine Seminare nehmen häufig ihren Ausgangspunkt in eigenen Beobachtungen. 2013/14 war ich Studentin in deinem Studienseminar zur Kulturpraxis der Sommerfrische. Ich erinnere mich, dass du dieses Thema aus der Wahrnehmung heraus vorgeschlagen hattest, dass Wien weitgehend leer ist im Sommer.
Ja genau. Als Strukturierungsmoment des Wiener Jahreslaufs war mir die Sommerfrische als Kind aufgefallen, weil alle meine Freunde über Wochen weg waren. Wir sehen hier eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit, die einerseits sehr milieugebunden ist. Andererseits hat sich die bürgerliche Sommerfrische längst pluralisiert und ist quasi Teil eines Habitus geworden. Mit dem Thema Protest verhält es sich ähnlich. Als ich es zum ersten Mal in der Lehre eingebunden habe, wurde Österreich türkis-blau regiert. Gegen die Regierungspolitik richteten sich die Donnerstagsdemonstrationen und andere Protestformen. Hinzu kamen Fridays for Future und Black Lives Matter. Es gab große Veränderungen innerhalb der Protestkultur, etwa im Hinblick auf die Bedeutung digitaler Vernetzungsmöglichkeiten oder Geschlechter- und Altersstrukturen – also die medial aufmerksam verfolgte Präsenz Jugendlicher bzw. junger Frauen in Protesten. Solche Phänomene haben eine hohe Brisanz und sind unmittelbar im öffentlichen Raum sichtbar.
Was sagt das über die Zeit aus, in der wir leben?
Ich glaube, wir befinden uns an einer Bruchstelle. Das zeigt sich in veränderten Lebensweisen und Konsumhaltungen, zum Beispiel durch wachsende Achtsamkeit gegenüber der Umwelt. Zugleich muss man diese Entwicklungen kritisch betrachten denn in den Veränderungsprozessen gibt es Widersprüche und Fraktionierungen. Viele partizipative kommunitäre Projekte sind in ökonomische Logiken eingebettet, wie es beispielsweise bei Car Sharing geschehen ist. Ich halte es für wichtig, solche Phänomene wissenschaftlich zu begleiten und zu verstehen.
Die Europäische Ethnologie ist ein Vielnamenfach und wird zum Teil sehr unterschiedlich verstanden und umgesetzt. Was zeichnet deinen Forschungsansatz aus?
Meine Forschungsthemen ergeben sich aus Alltagsbeobachtungen. Es geht mir darum, das eigene Leben und gesellschaftliches Leben zu befragen und zu verstehen. Mein Zugang ist sehr stark ethnografisch ausgerichtet, was ich zunächst epistemologisch-methodisch meine: aus einer teilnehmend-beobachtenden Perspektive heraus zu arbeiten. Es geht darum, konkrete Situationen, konkrete Meinungen, Haltungen, Selbstverständnisse anzusehen, sie genau zu kontextualisieren und suchend weiter zu fragen. Ich verstehe Ethnografie als multiperspektivische Annäherung und Ethnologie als akteurszentrierte Alltagskulturforschung in Geschichte und Gegenwart. Und für diese möchte ich begeistern.
Was bedeutet Alltag dabei?
Alltag ist im m er pluralisiert zu denken, es gibt verschiedene Formen und Modelle gleichzeitig. Damit sind nicht stetig gleiche, lähmende Routinen eines täglich gleichen Ablaufs gemeint, sondern selbstverständliche Arten und Weisen, sein Leben zu arrangieren. Das betrifft Fragen von Grundversorgung und Wohnen, Arbeit, Ökonomie, Gesundheit, Ernährung. Corona hat gezeigt, dass es Kennzeichen einer großen Krise oder Irritation ist, dass wir lernen, mit sich ändernden Rahmenbedingungen umzugehen. Wir sind inzwischen in einem anderen Alltag angekommen und auch dieser Alltag wird sich wieder verändern. Die Alltagskulturforschung zu existenziellen Krisen wie Flucht oder Krieg hat immer wieder gezeigt, welche Kompetenzen Menschen haben, sich zu arrangieren und lebenserhaltende Bewältigungsformen zu finden. Dazu gehört eine gewisse Routine und Struktur, was letztlich Alltag ist.
Wir haben dieser Tage ein großes gemeinsames Projekt erfolgreich abgeschlossen: die Online Ausstellung „Wir protestieren!". Sie ist das Ergebnis eines zweisemestrigen Studienprojekts und war ursprünglich als Ausstellung im Museumvorgesehen. Ende Jänner wäre die Eröffnung gewesen. Als sich abzeichnete, dass es pandemiebedingt unsicher werden würde, die Ausstellung im geplanten Zeitraum auch tatsächlich für Besucher*innen im Museum zu zeigen, habt ihr sehr flexibel reagiert. Statt die Ausstellungsräume zu bespielen, habt ihr aus eurem gesammelten Forschungsmaterial eine Website kuratiert. Was für Erfahrungen nimmst du aus diesem Prozess mit?
Sich wiederholt von bestimmten Wegen, Arbeitsweisen und Zielen verabschieden zu müssen, war eine große Herausforderung und ein Lernprozess. Die Logik und das Zeitmanagement des Museums sind ganz andere als die der Universität. Hinzukamen die eigenen Arbeitsprozesse von Grafik und Websiteprogrammierung. Ein Projektseminar lebt von Kollegialität und Teamarbeit, vom Austausch. Es wird viel gemeinschaftlich und demokratisch entschieden. Das kollidiert mitunter einfach mit Fakten, mit nicht vereinbaren Realitäten. Es braucht viel Wissen über die unterschiedlichen Arbeitsabläufe, um solche interdisziplinären Formen der Zusammenarbeit reibungslos und effektiv zu gestalten. Man muss wissen: wie arbeitet ihr, wie arbeiten wir – und dann die Schnittmenge finden. Das haben wir erst im Prozess verstanden und dabei sehr viel gelernt.
Praxisseminare und längere Studienprojekte sind fester Bestandteil im Lehrplan des Instituts. Was ist der Mehrwert solcher Formate?
Man arbeitet über einen längeren Zeitraum, über mindestens ein Jahr zusammen. So gibt es viele unterschiedliche Prozesse der Teambildung und zahlreiche Arbeitsschritte. Man lernt voneinander und untereinander. Die Arbeit an einem gemeinsamen Forschungsthema mündet in ein Ergebnis, das aufbereitet und in die Öffentlichkeit getragen wird. Man muss sich in einem solchen Gemeinschaftsprojekt koordinieren, sich in eine Gesamtlogik einfügen und kann nicht nur an sich selbst und sein eigenes Thema denken. Das beinhaltet zudem multiple Aufgaben: zur Forschung kommen Lektorat, Drittmittelakquise und Öffentlichkeitsarbeit hinzu. Für mich ist das Studienprojekt eine besondere Chance als Lehrformat des forschenden Lernens.
Neben dem Protest-Projekt ist aktuell auch die Lehrveranstaltung „Kulturwissenschaftliche Werkstatt" am Haus verankert. Was ist das Besondere an der Zusammenarbeit mit dem Museum?
Ich sehe viel Potenzial in der Zusammenarbeit mit dem Museum, weil ihr sehr viel Raum für Entwicklung und Kreativität gebt; Ausprobieren und Tun als Erkenntnisprozess und -gewinn. Es gibt zahlreiche Verknüpfungsmöglichkeiten, die wir zunehmend institutionalisieren und erweitern. Das Vorhaben „Campus Alltagskultur" war ja eine solche Vision. Wir können die unterschiedlichen Universitäts- und Museumslogiken immer besser verbinden und zunehmend Synergieeffekte nutzen. Die Studierenden wollen und sollen das Museum als Raum und Modus kennenlernen, Kulturwissenschaft zu denken und zu leben, zu studieren und auch zu intervenieren. Nicht zuletzt als eine mögliche Berufsperspektive.
Zum Schluss möchte ich noch auf ein persönliches Projekt von dir zu sprechen kommen. Du hast ein Haus im Weinviertel mit einem „Schaufenster" mitten im Dorf. Was genau passiert dort? Was sind Themen, die dich aktuell beschäftigen?
In meiner Forschung geht es aktuell um Relationen zwischen Stadt und Land, Wien und den Bundesländern. In Göttingen hatte ich mit der Mittelstadt-Forschung begonnen und das Projekt am Beispiel von Wels und Hildesheim von Wien aus fortgeführt. In der Logik des Metrozentrismus wird Mittelstadt als Defizit wahrgenommen und Stadt lediglich als Großstadt gedacht. Anliegen des Projekts war, darauf einen kritischen Blick zu werfen. Das Mittelstadt-Projekt hat mir vor Augen geführt, wie wichtig eine Betrachtung der spezifischen Stadt-Land-Relationen und ihrer Veränderungen ist und wie hilfreich der Vergleich dabei. Über das Sommerfrische-Projekt habe ich dazu noch einmal neue Aspekte entdeckt.
Während des ersten Lockdowns letztes Jahr waren viele Menschen in Wien in einer unwahrscheinlichen Belastungssituation, eine Verunsicherung griff um sich. Ich habe damals ein Haus im Weinviertel gekauft mit einem ehemaligen Geschäftslokal, dessen Schaufenster erhalten geblieben ist. In dem Ort leben Menschen, die dort aufgewachsen sind, manche pendeln nach Wien und es gibt einen Zuzug von Zweitwohnsitzlern. Ich kenne und beobachte die Gegend seit vielen Jahren.
Das Schaufenster möchte ich als Kommunikationsort nutzen. Es hat eine lokale Bedeutungsgeschichte und weckt viele Erinnerungen. Nun strebe ich eine Nachnutzung an, teils in Kooperation mit den erstaunlich vielen dort ansässigen Künstler*innen, aber auch im Sinne kultur- oder regionalhistorischer Vignetten. Kunst ist ein großes Interessensfeld von mir, auch als Gegenüber zur Wissenschaft.
Mit einem Kunstwerk von Johannes Heuer ist nun ein erstes Objekt ausgestellt. Es trägt den Titel Stellenbosch 2020 und spielt auf das Coronajahr an. Die Installation hat Irritationen und Austausch hervorgerufen. Als nächstes möchte ich bald einmal historische Fotos des Straßenbildes aufhängen, um ins Gespräch zu kommen über Änderungen des Dorfes bzw. der Region, die uns alle verbindet. So entwickelt sich das Schaufenster weiter – gedacht aus dem Konnex Stadt/Land. Aktuell bricht mancherorts im ländlichen Raum sozial etwas auf, und ich möchte verschiedenen Logiken der Ortsbindung und Lebensweise Raum geben. Für mich ist das auch eine neue Art, Wissenschaft zu denken und zu praktizieren.
Das Interview führte Gesine Stern
Brigitta Schmidt-Lauber, geb. 1965 in Kiel, studierte Volkskunde, Ethnologie und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Hamburg und Köln. Nach der Promotion 1997 und Habilitation 2003 in Hamburg wurde sie 2006 Professorin am Institut für Kulturanthropologie/ Europäische Ethnologie der Universität Göttingen. Seit 2009 leitet sie das Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Sie war viele Jahre Herausgeberin der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde und ist Vizepräsidentin des Vereins für Volkskunde. Als Ergebnis eines Studienseminars realisierte sie zuletzt die Online Ausstellung „Wir protestieren!" in Kooperation mit dem Volkskundemuseum Wien
Zur Interviewausgabe
Zurück zu allen Interviews