Interview 2/2025

„Wir selbst sind die (post-)migrantischen Gemeinschaften“

Ein schriftliches Gespräch mit dem Kollektiv MUSMIG über ein Museum, das als Forderung nach einem Museum der Migration zu einem Museum wird, über Sammlungen auf Dachböden und einen konkreten Raum im Pavillon 1 am Otto Wagner Areal.
Was hat euch dazu inspiriert, MUSMIG (Museum der Migration) zu gründen?
Ljubomir Bratić: Die Forderung nach einem Archiv oder Museum der Migration in Österreich ist bereits mehrere Jahrzehnte alt, und dennoch blieb solch eine Institution bis heute ein Phantasma. Die frühen Versuche, Migration zu archivieren und in musealen Kontexten auszustellen sind in Österreich v.a. im Kontext von Initiativen zur verstärkten Sichtbarmachung von Gastarbeit zu verorten. Kaum eine Form von Migration war ja für das Land seit den 1960ern so prägend, wie die Arbeitsmigration aus Jugoslawien bzw. seinen Nachfolgestaaten und der Türkei. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ging es uns in der politisch engagierten migrantischen Szene in Wien vorrangig um die Frage, wie eine starke antirassistische Position aufzubauen wäre. Die Antworten, die damals diskutiert wurden, kreisten um Themen wie Konfliktinszenierungen, (Self-)Empowerment, Allianzenbildung, usw. Ziel war immer: Strategien zur Veränderung rassistischer Strukturen der Gesellschaften zu denken und auszuprobieren.
Elena Messner: Die museumspolitische Diskussion um die Musealisierung der Migration hat sich zwar in den letzten Jahrzehnten enorm entwickelt, aber ein Museum der Migration gibt es bis heute nicht. Für mich war ein motivierender Moment, als ich im Münchner Stadtmuseum 2019 im Rahmen meiner Arbeit an einem künstlerischen Projekt zur Gastarbeit eine migrationsbezogene Intervention in die Dauerausstellung gesehen habe. Auf einmal war das Münchner Stadtmuseum ein Museum der Migration. Das war für mich der Anlass, postwendend bei der Stadt Wien einen Antrag auf Unterstützung für eine wissenschaftlich-künstlerische Ideenwerkstatt MUSMIG zu stellen. Daraus ist dann durch Kooperationen, Netzwerke, Ideen und Freundschaften plötzlich das Kollektiv MUSMIG entstanden.
Mariama Nzinga Diallo: MUSMIG – Museum der Migration – ist ein Projekt, das die Selbsthistorisierung von Migrant:innen anstrebt. Es sucht nach einer Positionierung öffentlicher Institutionen angesichts globaler Kriege, Klimakatastrophen und der kapitalistischen Ausbeutung von Menschen und Natur. MUSMIG stellt die offene Frage, ob es möglich ist, ein migrantisches Subjekt zu denken, das ebenso viele Rechte hat wie ein Staat oder ein Individuum, und was dies für Fragen der Kuratierung in Museen bedeutet.
 
Gibt es eine MUSMIG-Sammlung?
Ljubomir Bratić: Hunderte. In Kellern und auf Dachböden oder bei Individuen oder Communities, Vereinen, Gruppen. Etwa bei mir zu Hause. Ein Ziel unserer Arbeit war immer zu zeigen, dass es zwar viele private Archive, Projekte und Objekte der Migration gibt, aber keinen Raum, wo diese Objekte, und das entsprechende Wissen, systematisch ausgestellt werden können.
 
Welche Ziele verfolgt ihr?
Elena Messner: Das Ziel war immer ein doppeltes: einerseits Museen dazu zu bringen, sich diesem Thema anzunehmen und strukturellen Rassismus oder ihre nationale Beschränktheit zu hinterfragen, und gleichzeitig darauf zu beharren, dass es im 21. Jahrhundert auch ein eigenes Museum der Migration braucht. Migration ist schließlich eines der zentralsten Themen unserer globalisierten Gesellschaften im 21. Jahrhundert.
Mariama Nzinga Diallo: MUSMIG versteht sich als Ideenwerkstatt, die den Diskurs über Nationalismus, Rassismus und Migration in Gang setzt und Raum für neue politische, ökonomische und soziale Utopien schafft. Das Kollektiv organisiert Ausstellungen und Veranstaltungen, um die Forderung nach einem Museum der Migration in den Mittelpunkt zu stellen. Ziel ist es, einen Ort des Austauschs zu schaffen, an dem Forschung, Vernetzung und Vermittlung stattfinden, um die Migrationsgeschichte als zentralen Bestandteil der österreichischen Identität anzuerkennen.
 
Wie hat sich MUSMIG seit der Gründung 2019 entwickelt, und welche Meilensteine habt ihr bisher erreicht?
Anna Seidel: 2020 kam es zur Geburt des Museum der Migration in Wien, einer Ausstellungsaktion in der Galerie „Die Schöne“ im 16. Bezirk, in der ein Exponat vorgestellt wurde: das Museum der Migration, das sich in Reaktion auf die politische Realität, in der es keinen Platz fand, selbst verwirklichen sollte. Die Ausstellungsaktion verstand sich als Geburtskanal, durch den Menschen zusammengeführt werden, um sich ihr eigenes Museum zu bauen. Nach einer Corona-bedingten Ruhephase wurde im Rahmen des Festivals WIENWOCHE 2023 ein vierzigköpfiges wissenschaftlich-künstlerisches Plenum veranstaltet und die erste sechsköpfige Direktion des Museums ernannt, die auch prompt mit sieben anderen Museumsdirektor:innen Wiens in öffentlichen Dialog in der Podiumsdiskussion „Wer hat Angst vor einem Museum der Migration“ trat. 2024 nutzte MUSMIG sein Direktionszimmer im Volkskundemuseum Wien (VKM) für kollektives Sammeln zum Thema Gib Bescheid, einem Ongoing-Ausstellungsprojekt rund um die Bedeutung und Reflexion von Bescheiden und ihrer Sprache, Form und biografischer Bedeutung. Seit 2024 lehrt MUSMIG auch an der Universität für angewandte Kunst in der Lehrveranstaltungsreihe „Museum der Migration – Ewige Anfänge – Stories repeating“. Und der jüngste Höhepunkt: Seit 2025 sind wir auf Einladung des VKM im Pavillon 1 am Otto Wagner Areal und werden hier unter dem Motto „MUSMIG wird manifest“ unseren Raum bespielen.
 
Was macht das MUSMIG zum Museum?
Elena Messner: Nichts. Es gibt kein Museum der Migration, es gibt nur die Forderung danach. Darum geht es uns. Das ist das Wesen von MUSMIG. Damit ist es als Utopie, als Begehren, als Idealphantasie eines Museums dann doch wieder ein Museum.
Araba Johnston Arthur: MUSIGM ist ein Museum, das es noch zu erkämpfen gilt. Zugleich interveniert es schon jetzt in österreichische Museumslandschaften, indem das MUSMIG-Kollektiv Dimensionen der Gewalt thematisiert, die Museen in Europa meist zugrunde liegen.
Mariama Nzinga Diallo: Ein Museum der Migration kann die Beiträge von Migrant:innen zur österreichischen Gesellschaft sichtbar machen und würdigen. Es fördert den interkulturellen Dialog, sensibilisiert für die Vielfalt der Gesellschaft und regt zur kritischen Auseinandersetzung mit Themen wie Nationalismus und Rassismus an.
 
Wie arbeitet ihr als interdisziplinäres Team zusammen, und wie bringt ihr die verschiedenen Perspektiven in eure Projekte ein?
Anna Seidel: MUSMIG steht quasi auf drei Beinen: einem wissenschaftlich-diskursiven, einem künstlerisch-aktivistischen und einem kulturpolitischen. Die Mitglieder des Kollektivs sind dementsprechend divers, was ihre professionellen Backgrounds anbelangt. Das ist notwendig, um ein solches Projekt am Leben zu halten. Dabei bringen die Mitglieder des Kollektivs immer unterschiedliche dieser Sparten MUSMIGs voran. Interdisziplinarität ist somit in die DNA von MUSMIG eingeschrieben.
 
Wie organsiert ihr euch und wie viele Menschen agieren mit?
Anna Seidel: Das Kollektiv trifft sich monatlich zu einem Jour Fixe, manchmal öfter, wenn Veranstaltungen anstehen, die das ganze Kollektiv mitorganisiert. Derzeit sind ca. 20 Personen im Kollektiv aktiv. Allerdings sehen wir MUSMIG nicht als geschlossenes ‚Team‘, sondern als sich zu manifestierendem Raum für migrantische Communities und Initiativen. Wenn man nach für, bei oder mit MUSMIG agierenden Personen fragt, schießt die Zahl also schnell nach oben.
 
Könnt ihr uns mehr über eure geplante Präsenz im Pavillon 1 am Otto Wagner Areal im Jahr 2025 erzählen? Welche Veranstaltungen und Ausstellungen sind geplant?
Anna Seidel: Wir haben am 29.3. unseren Raum im Pavillon 1 am OWA unter dem Motto „MUSMIG wird manifest“ eröffnet und planen weitere Veranstaltungen und Workshops zu diesem Thema. So werden wir bspw. am 5.7. im Rahmen des VKM-Programmschwerpunkts Through the Dark einen Schreibworkshop zu Manifesten organisieren. Im November laden wir Akteur:innen aus Migrationsmuseen aus anderen Regionen der Welt im Rahmen der Konferenz „How to build a museum of migration? Entstehungskämpfe und Implementierungsprozesse von Museen der Migration“ zur Vernetzung und zum Wissensaustausch rund um die Möglichkeiten und Herausforderungen bei der Gründung eines Museums der Migration ein. Weitere Veranstaltungen und Ausstellungen in unserem Raum am OWA sind zudem ab Herbst 2025 geplant.
Natalie Deewan: Wir möchten einerseits die Zusammenarbeit mit Initiativen fortsetzen, die bereits im Direktionszimmer oder im Dschungel Wien mit an Bord waren, wie Viena Chilena. Andererseits haben wir in unserem neuen Raum auch die Möglichkeit, einige größere Formate zu zeigen, wie etwa einen Auszug aus der Schaufensterzeitung des Café NIL, in der 32 Jahre Firmen- und Familiengeschichte beleuchtet werden. Auch sonst waren viele unserer Objekte im öffentlichen Raum präsent, beispielsweise die „Patografien“ von Patricio Handl, der seit Jahrzehnten mit seinen Plakaten in verschiedene Stadträume interveniert. Weiters haben wir sämtliche Ausgaben der Zeitschrift „art in migration“, die zwischen 2005 und 2010 von Soho in Ottakring herausgegeben und per Kolportage vertrieben wurde, für unseren Raum bekommen.
 
Wie bindet ihr migrantische Gemeinschaften in eure Arbeit ein?
Natalie Deewan: Bei uns gibt es weder eine implizite noch eine explizite Aufspaltung in wir (die wir etwa Ausstellungen machen oder ums Museum kämpfen) und die (nämlich die migrantischen Gemeinschaften). Wir SIND ja die (post-)migrantischen Gemeinschaften selbst und sind nicht nur in kooperativem Kontakt mit ebensolchen. Wir sind auf aktivistischer, wissenschaftlicher und künstlerischer Ebene vernetzt, stammen selbst aus verschiedenen migrantischen Gruppen, oder wir sind schlicht befreundet.
 
Wie können Interessierte Teil von MUSMIG werden?
Savo Ristić: Dem Verein MUSMIG beitreten und für MUSMIG eintreten.
Natalie Deewan: Ständig stoßen neue interessierte Personen zu uns dazu und schneller als sie sich auf unseren 38 m² umschauen können, sind sie Teil von MUSMIG geworden!
 
Welche langfristigen Visionen habt ihr für MUSMIG, und welche Rolle kann ein Museum der Migration in der österreichischen Museumslandschaft und auch der Gesellschaft spielen?
Anna Seidel: Die langfristigste Vision ist, ein Museum der Migration für Österreich in Wien zu gründen – ein Museum, das die vielen Geschichten von migrantischen Communitys und Individuen sammelt, archiviert und vermittelt. Und zwar nicht für, sondern mit jenen Communities. Dadurch würden Migration und ihre Bedeutung für das Leben in Österreich den Stellenwert in der kulturellen Erinnerung erhalten, der ihr seit Jahrzehnten verwehrt wird.
Ljubomir Bratić: Wenn wir ein Museum der Migration fordern, fordern wir es nicht, um einen neutralen und neutralisierenden Ort zu schaffen, sondern kehren die Perspektive um: Wir wollen in Zukunft einen Raum schaffen, aus dem Unruhe in den Diskurs ausstrahlt. Wir gehen davon aus, dass bestimmte Inhalte in der Gesellschaft nur mittels Musealisierung bestimmter Gegenstände, deren Durchgang durch die Sterilisationsmaschinen, deren Aufbewahrung in speziellen Räumen, deren vorsichtiges Herausholen von dort, deren Auratisierung in Ausstellungen und durch die Diskussionen, die darüber geführt werden, erzeugt und gesetzt werden. Insofern ist das Museum, wie wir es als Museum der Migration verstehen, ein Raum, in dem die großen Fragen nach Souveränität, Emanzipation, Gleichheit, Freiheit, Solidarität, Ausgeliefertsein, Normalität, Normalisierung, Sicherheit usw. gestellt und für und in der Öffentlichkeit bearbeitet werden. Ein Raum also, den wir sonst nirgendwo haben.
 
Die Fragen stellten Johanna Amlinger und Gesine Stern.
 
Seit 2019 arbeitet MUSMIG, ein Kollektiv von Historiker:innen, Sozial- und Kulturwissenschaftler:innen, Künstler:innen und Aktivist:innen, in einem freien und wachsenden Kollektiv zusammen. Das Kollektiv organisiert Austausch und Dialog zu den Möglichkeiten und Konzepten eines Museums der Migration in Wien.

Zu MUSMIG am OWA

Volkskundemuseum Wien
Otto Wagner Areal, Pavillon 1
Baumgartner Höhe 1, 1140 Wien

Öffnungszeiten:
Di-Fr: 10-17 Uhr
Sa: 14-17 Uhr
So: 11-17 Uhr
Anfahrt

Postanschrift:
Laudongasse 15-19, 1080 Wien

T: +43 1 406 89 05
F: +43 1 406 89 05.88
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